Literatur als geistiger Genuss.

In dieser Kategorie möchte ich Freunde von mir vorstellen, die den ""geistigen Genuss"" bedienen und zum Beispiel in Verbindung mit meinem Tee eine Komination von gelungener Lebensart bieten können. Kurz gesagt, einen guten Tee zusammmen mit guter Literatur zu geniessen ist Wellness pur!

Folgende Erzählung ist Teil des neuen Buches von Dr. Volker Issmer mit dem Titel ""Fremde Zeit – Unsere Zeit"". In den 20 Erzählungen, die Volker Issmer auf der Basis seiner breiten Forschungen über den Nationalsozialismus verfasst hat, gelingt es dem Autor, das Nichtwissen über Denken und Fühlen jener ‚fremden Zeit‘ abzubauen. Er dokumentiert in seinen nur teilweise fiktiven Handlungen, in denen Täter und Opfer gleichermaßen auftreten, die bis heute aus unterschiedlichsten Gründen von den Betroffenen zumeist ‚nicht-erzählten‘ Geschichten. Durch die literarische Darstellung des individuellen Geschehens wird manches für uns nachfolgende Generationen ‚verstehbarer‘, wird die Notwendigkeit der weiteren Aufarbeitung gerade des Einzelgeschehens der ‚fremden Zeit‘ für unsere heutige Zeit in besonderer Weise deutlich.

 

Volker Issmer 1943 in Glatz/Schlesien geboren, veröffentlichte 1998 den zweisprachigen Sammelband ‚Niederländer im Verdammten Land‘ sowie 2000 die Dokumentation ‚Das Arbeitserziehungslager Ohrbeck bei Osnabrück‘, mit der er 2003 zum Dr. phil. promoviert wurde. In weiteren Werken setzte er sich dokumentarisch oder literarisch vor allem mit Grundfragen des Nationalsozialismus aus­einander: ‚Als Mitläufer (Kategorie IV) entnazifiziert‘ (2001); ‚Die Reise des Grals‘ (2005); ‚Der tolle Christian‘ (2006); ‚Zahngold‘ (2008); ‚The Master‘s Lot‘ (2009). Hinzu kommen zahlreiche Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze. Der in Osnabrück lebende Historiker und frühere Lehrer ist Träger des Marion-Samuel-Preises 2002 der Stiftung Erinnerung. 2003 bekam er die Auszeichnung des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land e. V. und im September 2003 die Ehrengabe der Stadt Georgsmarienhütte.

 

 

 

Das Foto

Die Berge – er fürchtete sie. Jedenfalls diese. Wenn er aus dem Fenster ihrer Ferienwohnung schaute, sah er sie schroff emporragen, Gipfel hinter Gipfel. Die Berge zu Hause waren ganz anders. Sie lagen um die Stadt herum wie ferne dunkle Mauern, die aber nicht so hoch waren, daß sie den Himmel aussperrrten. Man konnte an die Berge heranfahren. Onkel und Tante hatten ihn damals mitgenommen, als sie mit dem neuen Auto einen Ausflug machten. Der Onkel hatte noch vor dem Vater ein Auto bekommen, weil er Arzt war und das Auto brauchte, um die Kranken zu besuchen. Bei dem Ausflug waren sie an den Berg herangefahren, von dem der Onkel sagte, daß er der höchste des Gebirges sei. Der Aufstieg war aber garnicht schwierig gewesen. Sie kamen zu einem Aussichtsturm, der im Wald auf einer Lichtung stand. Er hatte sich gefürchtet, den Turm zu besteigen, weil er leicht schwindlig wurde. Aber Tante Röschen hatte ihn an der Hand genommen und war ganz langsam mit ihm hinaufgestiegen, mit vielen Pausen, bis sie oben waren. Das Hinunterkommen danach war leichter gewesen. Auch in der Stadt gab es Berge. Aber sie waren nicht höher als die Türme der alten Kirchen, die zu ihren Füßen standen. Da gab es einen Berg, auf den die Verrückten kamen, wie der Bruder sagte. „Du gehörst auf den Gertrudenberg!“ – den Spruch bekam er häufig zu hören. Auf einem anderen Berg lag der Tiergarten, in dem er mit seiner Schulklasse gewesen war. Das war schön gewesen, sie hatten Füchse und Igel und Eichhörnchen gesehen. Förster wollte er seitdem werden. Sie selbst wohnten auch auf einem Berg, in einem Haus mit einem Garten drum herum. Um zur Schule zu kommen, mußte er nur den Berg hinunterlaufen, dann war er da. Zurück ging es etwas langsamer, auch weil sie da zu mehreren waren. Aber es dauerte nicht lange, und er war wieder zu Hause. Auf dem Berg zu wohnen war etwas Besonderes, das wußte er inzwischen. Nur die Reichen wohnten da, hatte einer aus seiner Klasse gesagt, der selbst nicht auf dem Berg wohnte. Ob sie wohl zu den Reichen gehörten? Der Vater hatte ein Geschäft in der Stadt, in dem viele Leute einkauften. Früher war das Geschäft nicht so groß gewesen, und es hatten auch nicht so viele Leute dort eingekauft. Sie sind lieber zum Juden gegangen, sagte der Bruder. Aber inzwischen wußten die Leute, daß der Jude betrügt, und kauften nicht mehr bei ihm, sondern beim Vater. Der Bruder war vier Jahre älter als er. Er ging aufs Gymnasium und war Pimpf beim Jungvolk. Zu Hause machte er sich wichtig, jetzt, wo die Mutter im Sanatorium war und Tante Röschen nicht mehr kam. Er glaubte wohl, er hätte das Sagen. „Bist du endlich soweit, du Träumsuse?“ Das war die Stimme des Bruders. „Los, komm runter! Der Vater wartet schon. Du weißt doch, daß wir heute noch was vorhaben.“ Er stieg die Treppe hinunter, an deren Fuß der Bruder stand, der ihn mit einem Knuff empfing und Richtung Eingang schob. Draußen am Auto wartete der Vater. Er trug seine braune Uniform mit den Abzeichen aus dem Krieg. Der Bruder hatte als Pimpf eine kurze schwarze Hose an, dazu Kniestrümpfe, graues Hemd und Halstuch. Er selbst trug wie immer seine Lederhose, dazu die Trachtenjacke, die er sonst nur sonntags anziehen durfte. Der Vater hatte es so gewollt. Ob sie so auf den Berg steigen würden? Von den Bergschuhen allerdings hatte der Vater nichts gesagt. Aber besser, er fragte nicht. Sonst würde ihn der Bruder nur wieder als Dummkopf bezeichnen. Der Vater machte eine ungeduldige Handbewegung, und sie stiegen ein. Wie immer setzte sich der Bruder nach vorn. Er selbst nahm auf dem Rücksitz Platz. Dagegen hatte er nichts, im Gegenteil. Da konnte er nach draußen schauen, soviel er Lust hatte. Vorne zu sitzen bedeutete, dem Vater genau zuhören zu müssen und auf seine Fragen zu antworten. Denn der Vater wollte wissen, ob er auch alles verstanden habe. Sie fuhren los und kamen durchs Dorf. Die Leute auf der Straße blieben stehen und starrten das Auto an, als es langsam an ihnen vorbeirollte. Im Dorf gab es kaum Autos. Es war ihm peinlich, so angeschaut zu werden. Er drehte den Kopf vom Fenster weg und rückte ein Stück in die Mitte des Wagens, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten. Dann drückte er das Gesicht wieder an die Scheibe. Der Vater sprach heute wenig, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Der Bruder war auch eher schweigsam. Vielleicht ist es, weil sie Uniform tragen, dachte er. Er wußte, daß es etwas Besonderes war, wenn sie das taten. Sie fuhren jetzt am Ufer eines Sees entlang. Auf der anderen Seite standen die Berge. Sie waren schroff und hoch, und ihre Gipfel ragten weiß über den Wald empor. Sie spiegelten sich im Wasser, so daß es aussah, als seien sie noch einmal da, aber auf den Kopf gestellt, mit dem Ufer als Trennlinie. Das erinnerte ihn daran, wie er einmal in einem Heft gemalt und es versehentlich zugeklappt hatte, bevor die Farbe getrocknet war. Danach war das Bild auch doppelt da gewesen, auf den beiden aufgeklappten Seiten. Aber jedes hatte zum anderen verkehrt herum gestanden, wie hier die Berge. Und was wäre, wenn man die auch zusammenklappen könnte? Dann wären sie auf einmal verschwunden. Er müßte sie nicht mehr besteigen, um sich zu ertüchtigen, wie der Vater es nannte. Sie würden ihn nicht mehr schwindlig machen. Es würde sie einfach nicht mehr geben, solange keiner sie wieder aufklappen würde. Und er würde das nicht tun, bestimmt nicht. Berge zusammenklappen – was das für einen Knall und Staub geben würde! Er mußte lachen. „Was gibt’s denn so Komisches?“ Der Vater hatte sich zu ihm umgedreht. Gleichzeitig verringerte er die Geschwindigkeit, bis der Wagen zum Stehen kam. Er suchte nach einer Antwort, aber ihm fiel nichts ein. „Der Kleine spinnt mal wieder“, sagte der Bruder zum Vater. Dann war er an der Reihe. „Wenn er dich anspricht, dann sag was! Aber was Gescheites, hörst du? Daß du uns ja keine Schande machst nachher!“ „Tu bloß nicht immer so großartig!“ Der Bruder spielte sich mal wieder auf. „Und außerdem, wer ist denn dieser er? Wo fahren wir eigentlich hin?“ „Ruhe! Jetzt streitet euch nicht!“ Die Stimme des Vaters duldete keinen Widerspruch. „Aber dein Bruder hat recht. Paß nachher genau auf, wenn du etwas gefragt wirst, und dann antworte kurz und knapp. Wir fahren zum Führer. Du weißt doch, wer das ist? Du wirst sehen, er ist sehr freundlich“, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Es ist eine große Ehre, daß wir ihn besuchen dürfen. Ich habe es erst heute morgen erfahren. Er mag Kinder sehr gern. Du brauchst also keine Angst vor ihm zu haben.“ Er fuhr wieder an. Also das war das Ziel ihrer Fahrt. Sie würden nicht wieder einen Berg besteigen, sondern den Führer sehen. Immer wieder hatte der Bruder davon gesprochen, daß der Führer ganz in der Nähe sei und jeder ihn besuchen dürfe, der zum Jungvolk gehöre. Er hatte das für die übliche Aufschneiderei gehalten. Aber nun hatte es auch der Vater gesagt und außerdem seine Uniform angezogen. Da mußte es wohl stimmen. Wer der Führer war, wußte er. Im Klassenraum hing ein Bild von ihm, und er hatte ihn auch schon im Radio gehört. Der Mann auf dem Bild sah streng aus, und die Stimme aus dem Radio klang so, als schimpfe er dauernd. Er hatte sich davor gefürchtet. Aber die Lehrer sagten, alle müßten den Führer lieben, weil er der Retter vor dem Juden sei, und der Vater und der Bruder hatten das auch gesagt. Wer war eigentlich der Jude, von dem sie immer sprachen? Ein einzelner Mann? Aber dann hieß es wieder, die Juden seien überall und bedrohten die Deutschen. Und jüdische Frauen gab es auch, das wußte er genau. Denn Tante Röschen war eine davon. Irgendwann war sie nicht mehr gekommen, und er hatte sie auch nicht besuchen dürfen. Wenn er gefragt hatte, hieß es zuerst, sie sei krank oder verreist. Später wurde gesagt, der Onkel habe sich von ihr getrennt, weil sie Jüdin sei. Da wußte er schon, daß das etwas Schlechtes bedeutete. Aber er hatte es nicht verstanden, weil der Onkel sie doch immer „mein Röschen“ nannte und sie niemandem etwas tat, sondern immer gut zu ihnen war, wenn sie ins Haus kam und die Familie versorgte, weil die Mutter krank war. Er hatte geweint, als er Tante Röschen nicht mehr sehen durfte. Da hatten sie geschimpft und ihm verboten, über sie zu sprechen. Und der Bruder hatte gesagt, wenn sie jemals wiederkäme, würde er sie aus dem Haus schmeißen. Das sei der Befehl des Führers, dem jeder Pimpf gehorchen müsse. Ob der Führer wußte, daß Tante Röschen anders war? Vielleicht hatte er bisher nur Juden gekannt, die schlecht waren. Aber sicher kannte er Tante Röschen nicht. Wie sollte er das auch, wenn er in der Hauptstadt oder hier in den Bergen wohnte? Wenn er sie kennen würde, würde er sie sicher mögen. Und er würde nicht zulassen, daß sich der Onkel von ihr trennte. Tante Röschen würde wieder zu ihnen nach Hause kommen, und alles wäre wie früher. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Die Landschaft wechselte. Wälder, Wiesen und Felder zogen vorbei, Brücken spannten sich über wildschäumende Bäche, und ab und zu passierten sie ein Dorf, das aussah wie das, in dem sie wohnten. Aber immer ragten ringsum schroffe Felswände in die Höhe, überragt von weißen Gipfeln. Schließlich kamen sie in einen größeren Ort. Auf der Straße waren viele Menschen, und sie konnten nur langsam fahren. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren groß und hatten bunte Blumen vor den Fenstern. Auf Schildern standen Namen, die er nicht immer entziffern konnte. Er war stolz, wenn er es mal schaffte. Dann hätte er es gern dem Vater gesagt. Er wagte es aber nicht, weil er den Spott des Bruders fürchtete. Sie kamen zu einem weiten Platz, auf dem schon andere Autos und auch einige Busse standen. Sie stiegen aus. Nach dem Weg zu fragen brauchten sie nicht, denn alle, die sie trafen, schienen in eine Richtung zu gehen. Sie mußten sich nur einreihen. Der Weg führte allmählich in die Höhe und schließlich auf eine freie Fläche hinaus, hinter der Gebäude standen. Er war sehr aufgeregt und spürte, wie sein Herz klopfte. Die Menschen formierten sich jetzt und bildeten größere und kleinere Gruppen. Er sah Jungen, die eine ähnliche Uniform wie der Bruder trugen. Aber sie waren schon älter. Der Bruder stieß ihn an. „Hitlerjugend!“ sagte er aufgeregt und wies auf den Wimpel, den einer der Jungen emporhielt. Von weiter her klangen die hellen Stimmen von Mädchen, die ein Lied sangen, das er von der Schule her kannte. „‘Auf, auf, ihr Wandersleut’“ begann es. Er mochte das Lied. Vielleicht mochte es der Führer ja auch, sonst würden sie es ja nicht vor ihm singen. Er konnte die Mädchen nicht sehen, da sie von den Größeren ringsum verdeckt wurden. Er hätte sich gewünscht, der Vater würde ihn auf seine Schultern setzen, wie er das früher manchmal getan hatte. Aber der Vater hielt ihn fest an der Hand, während er mit einem Mann in schwarzer Uniform sprach. Dann traten sie etwas zur Seite. „Wir müssen warten, bis wir aufgerufen werden“, sagte der Vater. „Aber wenn die Maiden mit dem Singen fertig sind, kommen wir dran. Das hat der SS-Mann gesagt. Ich hol schon mal meine Kamera raus.“ Er nahm den Apparat aus der Tasche, die er über der Schulter trug. „Vati, darf ich den Führer fragen, ob er nicht dafür sorgen kann, daß Tante Röschen wieder zurückkommt? Weil sie eine gute Jüdin ist und bestimmt nichts Böses getan hat?“ Der Vater, der gerade an seinem Fotoapparat hantierte, hielt plötzlich still. Dann blickte er auf. Sein sonnengebräuntes Gesicht sah auf einmal ganz grau aus, kam es ihm vor. „Du bist wohl völlig verrückt geworden!“ zischte der Bruder. „Wenn du das tust ..!“ Er trat auf ihn zu und ballte die Fäuste. Der Vater zog ihn zurück. „Er weiß doch nicht, was er da sagt!“ sagte er. „Überlaß das bitte mir!“ Er hatte halblaut gesprochen, aber mit solcher Eindringlichkeit, daß die Leute in der Nähe erstaunt zu ihnen herüberblickten. Der Bruder trat zurück. „Jetzt paß mal auf!“ Die Stimme des Vaters hatte wieder ihren normalen Klang. „Du wirst den Führer garnichts fragen, verstehst du? Der Führer kann sich nicht um Tante Röschen kümmern. Er hat dazu keine Zeit. Er hat zuviel zu tun. Wir dürfen ihn damit nicht belästigen, verstehst du?“ Er sah ihn eindringlich an. „Aber wenn du mir versprichst, daß du nichts sagst, dann versprech ich dir, daß Tante Röschen zurückkommt. Ist das in Ordnung?“ Er nickte. „Dann gib mir die Hand drauf.“ Er gab sie ihm, und der Vater drückte so fest zu, daß es schmerzte. Dann ließ er sie wieder los. „Aber ..!“ Der Bruder wollte etwas sagen. Unter dem Blick des Vaters verstummte er. Der Mann in der schwarzen Uniform kam, um sie zu holen. Sie folgten ihm ein paar Stufen hoch auf eine Terrasse. Gerade zogen die Mädchen ab, die gesungen hatten. Aus einer Gruppe von Personen, die am Geländer stand, löste sich ein kleiner Mann. Er trug einen Anzug und einen Hut, dessen Krempe tief ins Gesicht gezogen war. Auf der Oberlippe hatte er einen kleinen schwarzen Schnurrbart, der Mund darunter lächelte. Der Mann kam ihnen entgegen, und der Vater und der Bruder nahmen Haltung an, wie sie das nannten. Der Führer schüttelte erst dem Vater, dann dem Bruder und dann ihm die Hand. Er fragte ihn, wie er heiße und wie alt er sei, und er sagte es ihm. Dann fragte er den Bruder nach dem Jungvolk und den Vater nach dem Krieg, und sie antworteten ihm. Der Vater fragte, ob er ein Foto machen dürfe, und der Führer erlaubte es. Er stellte sich zwischen ihn und den Bruder und legte ihnen beiden die Hände um die Schultern, während der Vater fotografierte. Dann wandte der Führer sich um und ging zurück zu der Gruppe, die am Geländer stand. Der Mann in der schwarzen Uniform erschien und führte sie wieder die Treppe hinunter. Dann verschwand er. Der Vater ging vorweg. Er folgte mit dem Bruder, aber sie sprachen nicht miteinander. Dann waren sie wieder beim Auto. Der Vater öffnete, sie stiegen ein und setzten sich auf ihre Plätze. „Wann kann ich denn endlich Tante Röschen sehen?“ Er stellte die Frage, bevor der Vater losfahren konnte. „Sag du es ihm!“ Der Vater hatte sich an den Bruder gewandt. Dann startete er den Wagen. Der Bruder drehte sich um und rief ihm durch den Lärm zu: „Tante Röschen ist doch längst tot. Sie hat sich das Leben genommen, nach der Scheidung, mit Tabletten oder sowas. Das war auch das Beste für sie. Ich weiß es schon lange. Aber dir haben sie es nicht gesagt, weil du zu klein bist und immer so ein Theater um sie gemacht hast. Aber jetzt weißt du’s.“

 

 

Vor einiger Zeit fand der Verfasser in einem Nachlaß, der ihm übergeben worden war, in einem Album ein Foto. Es zeigt Adolf Hitler zusammen mit zwei Jungen in der oben beschriebenen Pose. Der eine Junge ist vielleicht elf oder zwölf, der andere sechs oder sieben Jahre alt. Alle drei lächeln in die Kamera. Wenn der ‘Führer’ statt des Schlapphuts eine Melone trüge, wäre die Ähnlichkeit mit Charlie Chaplin noch größer. Laut Bildunterschrift gehören die beiden Jungen einer Familie der damaligen Osnabrücker Geschäftswelt an. Wer die Aufnahme gemacht hat, wird nicht gesagt. Sie ist offensichtlich auf dem ‘Berghof’ am Obersalzberg enstanden, dem zweiten Wohnsitz des ‘Führers’. Im familiären Umfeld der Person, von der der Nachlaß stammt, soll es einen Fall von ‘jüdischer Versipptheit’ gegeben haben. Das erfuhr der Verfasser, als er den Nachlaß ausgehändigt bekam. Es sei aber ein Familiengeheimnis gewesen, über das nicht gesprochen werden durfte. Auf dieser Grundlage ist die Geschichte entstanden.

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Folgende Erzählung ist Teil des neuen Buches von Dr. Volker Issmer mit dem Titel ""Fremde Zeit – Unsere Zeit"". In den 20 Erzählungen, die Volker Issmer auf der Basis seiner breiten Forschungen über den Nationalsozialismus verfasst hat, gelingt es dem Autor, das Nichtwissen über Denken und Fühlen jener ‚fremden Zeit‘ abzubauen. Er dokumentiert in seinen nur teilweise fiktiven Handlungen, in denen Täter und Opfer gleichermaßen auftreten, die bis heute aus unterschiedlichsten Gründen von den Betroffenen zumeist ‚nicht-erzählten‘ Geschichten. Durch die literarische Darstellung des individuellen Geschehens wird manches für uns nachfolgende Generationen ‚verstehbarer‘, wird die Notwendigkeit der weiteren Aufarbeitung gerade des Einzelgeschehens der ‚fremden Zeit‘ für unsere heutige Zeit in besonderer Weise deutlich.

 

Volker Issmer 1943 in Glatz/Schlesien geboren, veröffentlichte 1998 den zweisprachigen Sammelband ‚Niederländer im Verdammten Land‘ sowie 2000 die Dokumentation ‚Das Arbeitserziehungslager Ohrbeck bei Osnabrück‘, mit der er 2003 zum Dr. phil. promoviert wurde. In weiteren Werken setzte er sich dokumentarisch oder literarisch vor allem mit Grundfragen des Nationalsozialismus aus­einander: ‚Als Mitläufer (Kategorie IV) entnazifiziert‘ (2001); ‚Die Reise des Grals‘ (2005); ‚Der tolle Christian‘ (2006); ‚Zahngold‘ (2008); ‚The Master‘s Lot‘ (2009). Hinzu kommen zahlreiche Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze. Der in Osnabrück lebende Historiker und frühere Lehrer ist Träger des Marion-Samuel-Preises 2002 der Stiftung Erinnerung. 2003 bekam er die Auszeichnung des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land e. V. und im September 2003 die Ehrengabe der Stadt Georgsmarienhütte.

 

 

 

Das Foto

Die Berge – er fürchtete sie. Jedenfalls diese. Wenn er aus dem Fenster ihrer Ferienwohnung schaute, sah er sie schroff emporragen, Gipfel hinter Gipfel. Die Berge zu Hause waren ganz anders. Sie lagen um die Stadt herum wie ferne dunkle Mauern, die aber nicht so hoch waren, daß sie den Himmel aussperrrten. Man konnte an die Berge heranfahren. Onkel und Tante hatten ihn damals mitgenommen, als sie mit dem neuen Auto einen Ausflug machten. Der Onkel hatte noch vor dem Vater ein Auto bekommen, weil er Arzt war und das Auto brauchte, um die Kranken zu besuchen. Bei dem Ausflug waren sie an den Berg herangefahren, von dem der Onkel sagte, daß er der höchste des Gebirges sei. Der Aufstieg war aber garnicht schwierig gewesen. Sie kamen zu einem Aussichtsturm, der im Wald auf einer Lichtung stand. Er hatte sich gefürchtet, den Turm zu besteigen, weil er leicht schwindlig wurde. Aber Tante Röschen hatte ihn an der Hand genommen und war ganz langsam mit ihm hinaufgestiegen, mit vielen Pausen, bis sie oben waren. Das Hinunterkommen danach war leichter gewesen. Auch in der Stadt gab es Berge. Aber sie waren nicht höher als die Türme der alten Kirchen, die zu ihren Füßen standen. Da gab es einen Berg, auf den die Verrückten kamen, wie der Bruder sagte. „Du gehörst auf den Gertrudenberg!“ – den Spruch bekam er häufig zu hören. Auf einem anderen Berg lag der Tiergarten, in dem er mit seiner Schulklasse gewesen war. Das war schön gewesen, sie hatten Füchse und Igel und Eichhörnchen gesehen. Förster wollte er seitdem werden. Sie selbst wohnten auch auf einem Berg, in einem Haus mit einem Garten drum herum. Um zur Schule zu kommen, mußte er nur den Berg hinunterlaufen, dann war er da. Zurück ging es etwas langsamer, auch weil sie da zu mehreren waren. Aber es dauerte nicht lange, und er war wieder zu Hause. Auf dem Berg zu wohnen war etwas Besonderes, das wußte er inzwischen. Nur die Reichen wohnten da, hatte einer aus seiner Klasse gesagt, der selbst nicht auf dem Berg wohnte. Ob sie wohl zu den Reichen gehörten? Der Vater hatte ein Geschäft in der Stadt, in dem viele Leute einkauften. Früher war das Geschäft nicht so groß gewesen, und es hatten auch nicht so viele Leute dort eingekauft. Sie sind lieber zum Juden gegangen, sagte der Bruder. Aber inzwischen wußten die Leute, daß der Jude betrügt, und kauften nicht mehr bei ihm, sondern beim Vater. Der Bruder war vier Jahre älter als er. Er ging aufs Gymnasium und war Pimpf beim Jungvolk. Zu Hause machte er sich wichtig, jetzt, wo die Mutter im Sanatorium war und Tante Röschen nicht mehr kam. Er glaubte wohl, er hätte das Sagen. „Bist du endlich soweit, du Träumsuse?“ Das war die Stimme des Bruders. „Los, komm runter! Der Vater wartet schon. Du weißt doch, daß wir heute noch was vorhaben.“ Er stieg die Treppe hinunter, an deren Fuß der Bruder stand, der ihn mit einem Knuff empfing und Richtung Eingang schob. Draußen am Auto wartete der Vater. Er trug seine braune Uniform mit den Abzeichen aus dem Krieg. Der Bruder hatte als Pimpf eine kurze schwarze Hose an, dazu Kniestrümpfe, graues Hemd und Halstuch. Er selbst trug wie immer seine Lederhose, dazu die Trachtenjacke, die er sonst nur sonntags anziehen durfte. Der Vater hatte es so gewollt. Ob sie so auf den Berg steigen würden? Von den Bergschuhen allerdings hatte der Vater nichts gesagt. Aber besser, er fragte nicht. Sonst würde ihn der Bruder nur wieder als Dummkopf bezeichnen. Der Vater machte eine ungeduldige Handbewegung, und sie stiegen ein. Wie immer setzte sich der Bruder nach vorn. Er selbst nahm auf dem Rücksitz Platz. Dagegen hatte er nichts, im Gegenteil. Da konnte er nach draußen schauen, soviel er Lust hatte. Vorne zu sitzen bedeutete, dem Vater genau zuhören zu müssen und auf seine Fragen zu antworten. Denn der Vater wollte wissen, ob er auch alles verstanden habe. Sie fuhren los und kamen durchs Dorf. Die Leute auf der Straße blieben stehen und starrten das Auto an, als es langsam an ihnen vorbeirollte. Im Dorf gab es kaum Autos. Es war ihm peinlich, so angeschaut zu werden. Er drehte den Kopf vom Fenster weg und rückte ein Stück in die Mitte des Wagens, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten. Dann drückte er das Gesicht wieder an die Scheibe. Der Vater sprach heute wenig, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Der Bruder war auch eher schweigsam. Vielleicht ist es, weil sie Uniform tragen, dachte er. Er wußte, daß es etwas Besonderes war, wenn sie das taten. Sie fuhren jetzt am Ufer eines Sees entlang. Auf der anderen Seite standen die Berge. Sie waren schroff und hoch, und ihre Gipfel ragten weiß über den Wald empor. Sie spiegelten sich im Wasser, so daß es aussah, als seien sie noch einmal da, aber auf den Kopf gestellt, mit dem Ufer als Trennlinie. Das erinnerte ihn daran, wie er einmal in einem Heft gemalt und es versehentlich zugeklappt hatte, bevor die Farbe getrocknet war. Danach war das Bild auch doppelt da gewesen, auf den beiden aufgeklappten Seiten. Aber jedes hatte zum anderen verkehrt herum gestanden, wie hier die Berge. Und was wäre, wenn man die auch zusammenklappen könnte? Dann wären sie auf einmal verschwunden. Er müßte sie nicht mehr besteigen, um sich zu ertüchtigen, wie der Vater es nannte. Sie würden ihn nicht mehr schwindlig machen. Es würde sie einfach nicht mehr geben, solange keiner sie wieder aufklappen würde. Und er würde das nicht tun, bestimmt nicht. Berge zusammenklappen – was das für einen Knall und Staub geben würde! Er mußte lachen. „Was gibt’s denn so Komisches?“ Der Vater hatte sich zu ihm umgedreht. Gleichzeitig verringerte er die Geschwindigkeit, bis der Wagen zum Stehen kam. Er suchte nach einer Antwort, aber ihm fiel nichts ein. „Der Kleine spinnt mal wieder“, sagte der Bruder zum Vater. Dann war er an der Reihe. „Wenn er dich anspricht, dann sag was! Aber was Gescheites, hörst du? Daß du uns ja keine Schande machst nachher!“ „Tu bloß nicht immer so großartig!“ Der Bruder spielte sich mal wieder auf. „Und außerdem, wer ist denn dieser er? Wo fahren wir eigentlich hin?“ „Ruhe! Jetzt streitet euch nicht!“ Die Stimme des Vaters duldete keinen Widerspruch. „Aber dein Bruder hat recht. Paß nachher genau auf, wenn du etwas gefragt wirst, und dann antworte kurz und knapp. Wir fahren zum Führer. Du weißt doch, wer das ist? Du wirst sehen, er ist sehr freundlich“, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Es ist eine große Ehre, daß wir ihn besuchen dürfen. Ich habe es erst heute morgen erfahren. Er mag Kinder sehr gern. Du brauchst also keine Angst vor ihm zu haben.“ Er fuhr wieder an. Also das war das Ziel ihrer Fahrt. Sie würden nicht wieder einen Berg besteigen, sondern den Führer sehen. Immer wieder hatte der Bruder davon gesprochen, daß der Führer ganz in der Nähe sei und jeder ihn besuchen dürfe, der zum Jungvolk gehöre. Er hatte das für die übliche Aufschneiderei gehalten. Aber nun hatte es auch der Vater gesagt und außerdem seine Uniform angezogen. Da mußte es wohl stimmen. Wer der Führer war, wußte er. Im Klassenraum hing ein Bild von ihm, und er hatte ihn auch schon im Radio gehört. Der Mann auf dem Bild sah streng aus, und die Stimme aus dem Radio klang so, als schimpfe er dauernd. Er hatte sich davor gefürchtet. Aber die Lehrer sagten, alle müßten den Führer lieben, weil er der Retter vor dem Juden sei, und der Vater und der Bruder hatten das auch gesagt. Wer war eigentlich der Jude, von dem sie immer sprachen? Ein einzelner Mann? Aber dann hieß es wieder, die Juden seien überall und bedrohten die Deutschen. Und jüdische Frauen gab es auch, das wußte er genau. Denn Tante Röschen war eine davon. Irgendwann war sie nicht mehr gekommen, und er hatte sie auch nicht besuchen dürfen. Wenn er gefragt hatte, hieß es zuerst, sie sei krank oder verreist. Später wurde gesagt, der Onkel habe sich von ihr getrennt, weil sie Jüdin sei. Da wußte er schon, daß das etwas Schlechtes bedeutete. Aber er hatte es nicht verstanden, weil der Onkel sie doch immer „mein Röschen“ nannte und sie niemandem etwas tat, sondern immer gut zu ihnen war, wenn sie ins Haus kam und die Familie versorgte, weil die Mutter krank war. Er hatte geweint, als er Tante Röschen nicht mehr sehen durfte. Da hatten sie geschimpft und ihm verboten, über sie zu sprechen. Und der Bruder hatte gesagt, wenn sie jemals wiederkäme, würde er sie aus dem Haus schmeißen. Das sei der Befehl des Führers, dem jeder Pimpf gehorchen müsse. Ob der Führer wußte, daß Tante Röschen anders war? Vielleicht hatte er bisher nur Juden gekannt, die schlecht waren. Aber sicher kannte er Tante Röschen nicht. Wie sollte er das auch, wenn er in der Hauptstadt oder hier in den Bergen wohnte? Wenn er sie kennen würde, würde er sie sicher mögen. Und er würde nicht zulassen, daß sich der Onkel von ihr trennte. Tante Röschen würde wieder zu ihnen nach Hause kommen, und alles wäre wie früher. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Die Landschaft wechselte. Wälder, Wiesen und Felder zogen vorbei, Brücken spannten sich über wildschäumende Bäche, und ab und zu passierten sie ein Dorf, das aussah wie das, in dem sie wohnten. Aber immer ragten ringsum schroffe Felswände in die Höhe, überragt von weißen Gipfeln. Schließlich kamen sie in einen größeren Ort. Auf der Straße waren viele Menschen, und sie konnten nur langsam fahren. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren groß und hatten bunte Blumen vor den Fenstern. Auf Schildern standen Namen, die er nicht immer entziffern konnte. Er war stolz, wenn er es mal schaffte. Dann hätte er es gern dem Vater gesagt. Er wagte es aber nicht, weil er den Spott des Bruders fürchtete. Sie kamen zu einem weiten Platz, auf dem schon andere Autos und auch einige Busse standen. Sie stiegen aus. Nach dem Weg zu fragen brauchten sie nicht, denn alle, die sie trafen, schienen in eine Richtung zu gehen. Sie mußten sich nur einreihen. Der Weg führte allmählich in die Höhe und schließlich auf eine freie Fläche hinaus, hinter der Gebäude standen. Er war sehr aufgeregt und spürte, wie sein Herz klopfte. Die Menschen formierten sich jetzt und bildeten größere und kleinere Gruppen. Er sah Jungen, die eine ähnliche Uniform wie der Bruder trugen. Aber sie waren schon älter. Der Bruder stieß ihn an. „Hitlerjugend!“ sagte er aufgeregt und wies auf den Wimpel, den einer der Jungen emporhielt. Von weiter her klangen die hellen Stimmen von Mädchen, die ein Lied sangen, das er von der Schule her kannte. „‘Auf, auf, ihr Wandersleut’“ begann es. Er mochte das Lied. Vielleicht mochte es der Führer ja auch, sonst würden sie es ja nicht vor ihm singen. Er konnte die Mädchen nicht sehen, da sie von den Größeren ringsum verdeckt wurden. Er hätte sich gewünscht, der Vater würde ihn auf seine Schultern setzen, wie er das früher manchmal getan hatte. Aber der Vater hielt ihn fest an der Hand, während er mit einem Mann in schwarzer Uniform sprach. Dann traten sie etwas zur Seite. „Wir müssen warten, bis wir aufgerufen werden“, sagte der Vater. „Aber wenn die Maiden mit dem Singen fertig sind, kommen wir dran. Das hat der SS-Mann gesagt. Ich hol schon mal meine Kamera raus.“ Er nahm den Apparat aus der Tasche, die er über der Schulter trug. „Vati, darf ich den Führer fragen, ob er nicht dafür sorgen kann, daß Tante Röschen wieder zurückkommt? Weil sie eine gute Jüdin ist und bestimmt nichts Böses getan hat?“ Der Vater, der gerade an seinem Fotoapparat hantierte, hielt plötzlich still. Dann blickte er auf. Sein sonnengebräuntes Gesicht sah auf einmal ganz grau aus, kam es ihm vor. „Du bist wohl völlig verrückt geworden!“ zischte der Bruder. „Wenn du das tust ..!“ Er trat auf ihn zu und ballte die Fäuste. Der Vater zog ihn zurück. „Er weiß doch nicht, was er da sagt!“ sagte er. „Überlaß das bitte mir!“ Er hatte halblaut gesprochen, aber mit solcher Eindringlichkeit, daß die Leute in der Nähe erstaunt zu ihnen herüberblickten. Der Bruder trat zurück. „Jetzt paß mal auf!“ Die Stimme des Vaters hatte wieder ihren normalen Klang. „Du wirst den Führer garnichts fragen, verstehst du? Der Führer kann sich nicht um Tante Röschen kümmern. Er hat dazu keine Zeit. Er hat zuviel zu tun. Wir dürfen ihn damit nicht belästigen, verstehst du?“ Er sah ihn eindringlich an. „Aber wenn du mir versprichst, daß du nichts sagst, dann versprech ich dir, daß Tante Röschen zurückkommt. Ist das in Ordnung?“ Er nickte. „Dann gib mir die Hand drauf.“ Er gab sie ihm, und der Vater drückte so fest zu, daß es schmerzte. Dann ließ er sie wieder los. „Aber ..!“ Der Bruder wollte etwas sagen. Unter dem Blick des Vaters verstummte er. Der Mann in der schwarzen Uniform kam, um sie zu holen. Sie folgten ihm ein paar Stufen hoch auf eine Terrasse. Gerade zogen die Mädchen ab, die gesungen hatten. Aus einer Gruppe von Personen, die am Geländer stand, löste sich ein kleiner Mann. Er trug einen Anzug und einen Hut, dessen Krempe tief ins Gesicht gezogen war. Auf der Oberlippe hatte er einen kleinen schwarzen Schnurrbart, der Mund darunter lächelte. Der Mann kam ihnen entgegen, und der Vater und der Bruder nahmen Haltung an, wie sie das nannten. Der Führer schüttelte erst dem Vater, dann dem Bruder und dann ihm die Hand. Er fragte ihn, wie er heiße und wie alt er sei, und er sagte es ihm. Dann fragte er den Bruder nach dem Jungvolk und den Vater nach dem Krieg, und sie antworteten ihm. Der Vater fragte, ob er ein Foto machen dürfe, und der Führer erlaubte es. Er stellte sich zwischen ihn und den Bruder und legte ihnen beiden die Hände um die Schultern, während der Vater fotografierte. Dann wandte der Führer sich um und ging zurück zu der Gruppe, die am Geländer stand. Der Mann in der schwarzen Uniform erschien und führte sie wieder die Treppe hinunter. Dann verschwand er. Der Vater ging vorweg. Er folgte mit dem Bruder, aber sie sprachen nicht miteinander. Dann waren sie wieder beim Auto. Der Vater öffnete, sie stiegen ein und setzten sich auf ihre Plätze. „Wann kann ich denn endlich Tante Röschen sehen?“ Er stellte die Frage, bevor der Vater losfahren konnte. „Sag du es ihm!“ Der Vater hatte sich an den Bruder gewandt. Dann startete er den Wagen. Der Bruder drehte sich um und rief ihm durch den Lärm zu: „Tante Röschen ist doch längst tot. Sie hat sich das Leben genommen, nach der Scheidung, mit Tabletten oder sowas. Das war auch das Beste für sie. Ich weiß es schon lange. Aber dir haben sie es nicht gesagt, weil du zu klein bist und immer so ein Theater um sie gemacht hast. Aber jetzt weißt du’s.“

 

 

Vor einiger Zeit fand der Verfasser in einem Nachlaß, der ihm übergeben worden war, in einem Album ein Foto. Es zeigt Adolf Hitler zusammen mit zwei Jungen in der oben beschriebenen Pose. Der eine Junge ist vielleicht elf oder zwölf, der andere sechs oder sieben Jahre alt. Alle drei lächeln in die Kamera. Wenn der ‘Führer’ statt des Schlapphuts eine Melone trüge, wäre die Ähnlichkeit mit Charlie Chaplin noch größer. Laut Bildunterschrift gehören die beiden Jungen einer Familie der damaligen Osnabrücker Geschäftswelt an. Wer die Aufnahme gemacht hat, wird nicht gesagt. Sie ist offensichtlich auf dem ‘Berghof’ am Obersalzberg enstanden, dem zweiten Wohnsitz des ‘Führers’. Im familiären Umfeld der Person, von der der Nachlaß stammt, soll es einen Fall von ‘jüdischer Versipptheit’ gegeben haben. Das erfuhr der Verfasser, als er den Nachlaß ausgehändigt bekam. Es sei aber ein Familiengeheimnis gewesen, über das nicht gesprochen werden durfte. Auf dieser Grundlage ist die Geschichte entstanden.

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